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Alltag Leben als Frau zur Ehre Gottes Rückblick

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Was geistlicher Missbrauch, entfernte Weisheitszähne und Freiheit miteinander zu tun haben.

Ängstlich öffne ich den Mund und warte auf die Betäubungsspritze. Meine Weisheitszähne sollen gezogen werden. Zu groß ist die Gefahr, dass sie zu Bakterienschleudern in meinem Mund werden. Wie ungerne gebe ich sie her und wie ungerne sehe ich den kommenden Tagen entgegen.

Drei Jahre vorher sitzen mein Mann und ich vor dem Pastor unserer Heimatgemeinde. Ungläubig blicke ich ihn an: Gnade. So viel Gnade und die Möglichkeit, frei zu entscheiden. Das kann doch ausgenutzt werden! Ist es nicht die Aufgabe des Pastors, hart durchzugreifen, Gemeindezucht zu üben? Damals für uns ein Grund, unsere Gemeinde zu verlassen. Ohne es zu wissen öffne ich damit den Mund, damit mein himmlischer Papa meine „Weisheits“-zähne rausoperieren kann. Das Gift, das sie zerstreuen, kann ich noch nicht sehen.

Kurz nachdem wir uns aus unserer Gemeinde verabschiedet haben, treffe ich zufällig eine Frau aus der Gemeinde wieder. Sie spricht mich an. Sie hat ein Bild für unsere Familie: Gottes Sieg steht über unserer Familie. Tief in meinem Herzen weiß ich: Es kommt ein Sturm auf uns zu.

Ungefähr zwei Jahre nach dem Gespräch mit unserem Pastor stehe ich einem unserer neuen Pastoren gegenüber. Er hat mich angesprochen, weil ich die anderen Mamas zu einem christlichen Online-Kongress eingeladen habe. Seine Frau hat ihm eine Podcast-Folge der Veranstalter vorgespielt. Er wollte nur mal mit mir darüber reden. Die Frauen hätten einen fragwürdigen Ansatz. Biblisch sei das nicht. Ich stehe alleine vor ihm. Er bittet mich, nichts mehr von diesen Podcastern zu teilen. Ich stürze in die Dunkelheit. Spüre Hilflosigkeit, Beschämung, Verurteilung, Gnadenlosigkeit. Nach außen hin wahre ich mein Gesicht. Innen tobt ein Sturm. Die Weisheitszähne wackeln.

Eine Schwester aus der Gemeinde kommt auf mich zu. Beachtet hat sie mich sonst nicht. Nun spricht sie mich an: In den Podcasts würde nicht zwangsläufig von der Bibel her argumentiert werden. Einige Zeit später teilt sie ein Dokument, das dazu auffordert, seine Kinder mit aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelversen zu ermahnen. Auf meine vorsichtige Kritik erlebe ich eine Kostprobe der „biblischen Ermahnung“. Bibelverse werden zur Waffe, die mich vor allen anderen Müttern der Gruppe belehrt, beschämt und demütigt. Gnadenlos. Der erste Weisheitszahn bricht heraus.

Nach der ersten Begebenheit suche ich das Gespräch. Zeige meinen Schmerz und Schock. Verständnis finde ich keins. Nur die Rechtfertigung, man achte aufeinander. Druck solle das nicht machen. Ich spreche aus, dass ich die vorgeschlagene Kindererziehung als missbräuchlich empfinde. Gehör geschenkt wird mir nicht. Immer wieder erzähle ich von der Not, die ich mit einigen Büchern habe. Ich halte die Gesetze, die mir gerade als Ehefrau auferlegt werden, nicht aus. Breche mehrmals zusammen. In einem Befreiungsversuch, fotografiere ich das Buch, das mich versklavt. Ich stelle es in meinen Status. To throw away.

Kurze Zeit später wird mein Mann angesprochen: Ich solle doch bitte nichts in meinem privaten WhatsApp-Status teilen. Zu unserem Selbstschutz. Meine Mündigkeit und Selbstständigkeit werden mir abgesprochen. Der zweite Weisheitszahn bricht.

Offene Wunden. Meine Wunden vom Zähneziehen sieht man. Meine seelischen Wunden sind unsichtbar. Ich danke Jesus, dass er sich mir schon oft gezeigt hat. Klammere mich an ihn. Gedemütigt, beschämt, ohnmächtig. Und dann ruft sie an: Meine geistliche Mentorin. Sie hätte einige Fragen an mich. Erst als ich den Grund dafür erfahre, atme ich auf: Sie hatte einen Traum und wusste nicht, für wen er war. Gott beschenkt mich mit der übernatürlichen Zusage: Das, was du erlebt hast, war Unrecht. Es war nicht in meinem Sinn.

Immer wieder versuche ich, Kontakt mit der Gemeinde aufzunehmen. Strenge mich an, zu vergessen. Bitterkeit beginnt unbemerkt zu wachsen. Ebenso in meiner Wunde im Mund. Erst als ich bewusst vergebe und Gott mein gefühltes Recht auf Vergeltung abgebe, bin ich frei. Göttliches Antibiotikum. Er reinigt mich von der Bitterkeit. Aber die Wunde heilt dennoch nicht. Weitere Dinge geschehen. Die Liebe zu den Geschwistern bleibt. Der Schmerz bleibt.

Mein Herz wird weich und ich erkenne: Ich bin die, die hart war. Ich bin gnadenlos geworden. Jesus holt mich zu sich zurück. Mein Herz bricht neu über meine eigene Schuld, meine Schwäche, meine Gnadenlosigkeit. Ich darf erkennen: Biblisch bedeutet nicht, dass ich alles mit aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelversen begründe. Biblisch bedeutet, mich nach den Prinzipien auszustrecken, die ich in der Bibel finde. So zu handeln und zu denken, wie Jesus denkt. Mein Heimatpastor hatte Recht: Gnade und Liebe heilen. Gott schenkt uns Menschen so viel Würde, dass wir frei wählen dürfen. Mein Pastor hat mir genau das vorgelebt. Er ließ uns gehen und traute dem Heiligen Geist zu, unsere Herzen zu formen.

Heute bin ich den Schritt gegangen und habe mich offiziell aus der Gemeinde zurückgezogen. Mein Herz blutet. Ich liebe die einzelnen Geschwister. Keiner wollte mich verletzen. Alle meinen es gut. Aber die Atmosphäre von Gesetzlichkeit, Kontrolle und Angst ertrage ich nicht. Jetzt darf meine Wunde heilen. Sie hat nun Ruhe, Liebe und Gnade. Und die regelmäßige Kontrolle von meinem himmlischen Zahnarzt.

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